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Anmerkung zu:BAG 7. Senat, Beschluss vom 19.10.2022 - 7 ABR 27/21
Autor:Dr. Peter Sdorra, RiKG
Erscheinungsdatum:31.05.2023
Quelle:juris Logo
Normen:§ 1 BetrVG, § 180 SGB 9, § 253 ZPO, § 256 ZPO, § 177 SGB 9, § 13 BetrVG, § 152 SGB 9, § 164 SGB 9, § 178 SGB 9, § 182 SGB 9
Fundstelle:jurisPR-ArbR 22/2023 Anm. 1
Herausgeber:Prof. Franz Josef Düwell, Vors. RiBAG a.D.
Prof. Klaus Bepler, Vors. RiBAG a.D.
Zitiervorschlag:Sdorra, jurisPR-ArbR 22/2023 Anm. 1 Zitiervorschlag

Amtszeit der Schwerbehindertenvertretung bei Unterschreitung des Schwellenwerts



Leitsatz

Das Amt der Schwerbehindertenvertretung endet nicht vorzeitig, wenn die für ihre Wahl notwendige Mindestanzahl von fünf nicht nur vorübergehend beschäftigten schwerbehinderten Beschäftigten im Betrieb oder in der Dienststelle während der Amtszeit unterschritten wird.



A.
Problemstellung
Mit der vorliegenden Entscheidung sorgt das BAG nach langer Unsicherheit für die rechtliche Klärung der für die Schwerbehindertenvertretung existenziellen Frage, was mit ihr geschieht, wenn die Zahl der im Betrieb oder der Dienststelle beschäftigten Menschen mit Behinderung und der ihnen Gleichgestellten nach der Wahl der Schwerbehindertenvertretung während der laufenden Amtsperiode unter das für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX erforderliche Quorum von fünf absinkt.


B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
I. Die auf dem Gebiet der klinischen Forschung tätige Beteiligte zu 2) unterhält an ihrem Firmensitz in L einen Betrieb, in dem eine Schwerbehindertenvertretung gewählt ist. Darüber hinaus betreibt sie in K einen weiteren Betrieb, in dem ca. 120 Mitarbeitende tätig sind, ein Betriebsrat gewählt und seit der Wahl vom 13.11.2019 eine Schwerbehindertenvertretung, die Beteiligte zu 1), gebildet ist.
Am 01.08.2020 sank die Zahl der im Betrieb in K beschäftigten schwerbehinderten und ihnen gleichgestellten Mitarbeitenden von fünf auf vier. Die Beteiligte zu 2) teilte daraufhin der Beteiligten zu 1) mit, dass Letztere aus ihrer Sicht nicht mehr bestehe und die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten in K zukünftig von der im Betrieb in L errichteten Schwerbehindertenvertretung wahrgenommen würden.
Die Beteiligte zu 1) leitete daraufhin vor dem ArbG Köln ein Verfahren ein, in dem sie die Auffassung vertrat, ihr Mandat sei nicht aufgrund des Absinkens der Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten unter den Schwellenwert des § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX automatisch vorzeitig beendet. Vielmehr bestehe sie für die Dauer der in § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX festgelegten Amtszeit von vier Jahren fort. Die Gründe für ein vorzeitiges Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung seien in § 177 Abs. 7 SGB IX abschließend festgelegt. Ein Unterschreiten des Schwellenwertes in § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX gehöre aber nicht dazu.
Dementsprechend hat die Beteiligte zu 1) beantragt, festzustellen, dass ihre Amtszeit nicht am 01.08.2020 aufgrund des Herabsinkens der Anzahl der schwerbehinderten Mitarbeiter im Betrieb in K unter fünf beendet sei.
Demgegenüber beantragte die Beteiligte zu 2) Klageabweisung und verwies darauf, dass für den Betriebsrat anerkannt sei, dass sein Amt ende, wenn die Zahl der wahlberechtigten Arbeitnehmer dauerhaft unter den in § 1 Abs. 1 Satz 1 BetrVG geregelten Schwellenwert sinke. Entsprechendes gelte für die Schwerbehindertenvertretung, wenn deren Errichtungsvoraussetzungen während ihrer Amtszeit wegfielen. Hierfür sprächen auch die besonderen Ersatzvertretungsvoraussetzungen des § 180 SGB IX, nach denen eine umfassende Vertretung durch die Gesamtschwerbehindertenvertretung bzw. die deren Rechte und Pflichten wahrnehmende Schwerbehindertenvertretung eines anderen Betriebes – wie im vorliegenden Fall durch die Schwerbehindertenvertretung im Betrieb in L – gesichert sei.
Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das LArbG Köln hat die hiergegen gerichtete Beschwerde der Beteiligten zu 1) zurückgewiesen. Mit ihrer Rechtsbeschwerde verfolgt die Beteiligte zu 1) ihr Begehren weiter.
II. Das BAG hat der Rechtsbeschwerde stattgegeben. Es hat zunächst klargestellt, dass die Beteiligte zu 1) zur Einlegung der Rechtsbeschwerde befugt ist. Zweifel könnten sich hier daraus ergeben, dass die Beteiligte zu 1) dadurch erloschen sein könnte, dass das für die Wahl einer Schwerbehindertenvertretung gemäß § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX notwendige Quorum von fünf schwerbehinderten Mitarbeitenden seit dem 01.08.2020 unterschritten und damit die Schwerbehindertenvertretung eventuell erloschen war. In einem solchen Fall würde die Schwerbehindertenvertretung ihre Rechtsmittelbefugnis verlieren. Das hätte zur Folge, dass die Rechtsbeschwerde als unzulässig zu verwerfen wäre (vgl. BAG, Beschl. v. 14.09.2022 - 7 ABR 17/21 Rn. 12 m.w.N.).
Das BAG stellt im Weiteren klar, dass die Rechtsmittelbefugnis der Beteiligungsbefugnis folgt. Ist sie streitig – wie hier zwischen Arbeitgeberin und Schwerbehindertenvertretung –, wird sie hinsichtlich der Zulässigkeit des Rechtsmittels unterstellt. Das war zwar von den beiden Instanzgerichten nicht angezweifelt worden, aber dennoch nutzt das BAG diese Gelegenheit, um klarzustellen, dass es einem allgemeinen prozessualen Grundsatz entspricht, dass eine Partei, deren Parteifähigkeit oder gar rechtliche Existenz im Streit steht, wirksam ein Rechtsmittel mit dem Ziel einlegen kann, hierüber eine Sachentscheidung zu erlangen (Rn. 11 der Besprechungsentscheidung).
III. Im Folgenden stellt der Siebte Senat dann aber fest, dass damit beteiligten- und rechtsmittelfähig die „Schwerbehindertenvertretung als Stelle“ ist (Rn. 13 der Besprechungsentscheidung) und nicht die jeweilige Vertrauensperson als rechtliches Individuum, wie vielfach in der Praxis fälschlich von den (Haupt-, Gesamt-)Vertrauenspersonen angenommen wird. Denn der Streit betrifft nicht die persönlichen Rechte oder die Rechtsstellung der Vertrauensperson oder von deren Stellvertretern (Rn. 20 der Besprechungsentscheidung). Dem steht nicht entgegen, dass die Schwerbehindertenvertretung kein kollegiales Personalvertretungsgremium ist wie der Betriebs- oder Personalrat. Denn die Schwerbehindertenvertretungen sind nach § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX als „Zusammenfassung von Vertrauensperson und stellvertretenden Mitgliedern zu einem besonderen kollektiven Vertretungskörper definiert“ (Rn. 13 der Besprechungsentscheidung; BAG, Beschl. v. 14.09.2022 - 7 ABR 17/21 Rn. 23) und damit grundsätzlich – wie auch hier – beteiligtenfähig.
IV. Das wird auch dadurch bestätigt, dass es der Schwerbehindertenvertretung bei ihrem Antrag darum geht, festzustellen, dass sie noch im Amt ist, nicht aber (ausschließlich) um die vergangenheitsbezogene Feststellung, dass sie als Stelle nicht am 01.08.2020 aufgelöst worden ist (BAG, Beschl. v. 14.09.2022 - 7 ABR 17/21 Rn. 17). Das BAG stellt ausdrücklich klar, dass ein so verstandenes Feststellungsinteresse ausreicht und ein entsprechender Feststellungsantrag hinreichend bestimmt i.S.d. §§ 253 Abs. 2 Nr. 2, 256 Abs. 1 ZPO ist (BAG, Beschl. v. 14.09.2022 - 7 ABR 17/21 Rn. 18). Damit klärt es überzeugend die nicht immer einfach zu beantwortende juristische Frage nach dem Feststellungsinteresse und bejaht – zutreffend – die Antragsbefugnis der Beteiligten zu 1) (vgl. BAG, Beschl. v. 14.09.2022 - 7 ABR 17/21 Rn. 19).
V. In der Sache selbst entscheidet das BAG zugunsten der Schwerbehindertenvertretung (Rn. 21 ff. der Besprechungsentscheidung). Systematisch geht es dabei von der gesetzlichen Regelung zur Wahl und Amtszeit der Schwerbehindertenvertretungen in § 177 SGB IX aus und lehnt sehr deutlich ein Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung im Falle des Absinkens der Zahl der Beschäftigten mit Behinderung unter das Quorum von fünf Mitarbeitenden ab. Dabei geht es klassisch zunächst auf den Wortlaut der hier wesentlichen Vorschriften des § 177 Abs. 1 Satz 1, Abs. 7 Satz 1 und Satz 3 SGB IX ein und gelangt zu dem zutreffenden Ergebnis, dass diesen Normen kein Hinweis darauf zu entnehmen ist, dass bei Absinken des Quorums der Beschäftigten mit Behinderung unter fünf die Schwerbehindertenvertretung erlischt (so auch Knittel, SGB IX, 11. Aufl. 2027, § 94 (a.F.) Rn. 240). Da insbesondere in § 177 Abs. 7 Satz 3 SGB IX vom Gesetzgeber die Gründe für ein Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung ausdrücklich und – wie die Beteiligte zu 1) zu Recht meint – abschließend aufgezählt sind, dürfte sich die Feststellung des Senates, dass die Auslegung anhand des Wortlautes ein Erlöschen bei Unterschreiten des Quorums nicht verbietet (Rn. 24 der Besprechungsentscheidung), erübrigen. Die sich anschließenden systematischen Überlegungen des BAG (Rn. 25 ff. der Besprechungsentscheidung) sind überzeugend und bieten eine gute Grundlage für die getroffene wichtige Entscheidung zugunsten der Schwerbehindertenvertretung. Der Senat arbeitet den Unterschied zwischen den Personalvertretungsgremien Betriebs- und Personalrat einerseits und der Schwerbehindertenvertretung andererseits heraus und stellt erfreulich klar, dass das Fehlen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung über das Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung bei Absinken der Zahl der Beschäftigten mit Behinderung unter die Zahl fünf deutlich zeigt, dass das Ende der Schwerbehindertenvertretung gerade nicht von einem solchen Absinken abhängen soll (Rn. 26 der Besprechungsentscheidung). Im Ergebnis deutlich gelangt das BAG zu der „Grundannahme“, dass allein die im Zeitpunkt der Wahl bestehende (Mindest-)Zahl der in dem Betrieb oder in der Dienststelle beschäftigten schwerbehinderten Menschen ausschlaggebend ist (...) (Rn. 28 der Besprechungsentscheidung). Zuzustimmen ist dem erkennenden Senat schließlich bei seiner auf die Regelungskonzeption des Gesetzgebers sowie den Sinn und Zweck der Mindestzahlbestimmung für die Wahl der Schwerbehindertenvertretung abstellenden Argumentation (vgl. Rn. 29 ff. der Besprechungsentscheidung). Überzeugend weist der Senat ferner darauf hin, dass gerade die vielfältigen Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 SGB IX selbst dann greifen, wenn kein Beschäftigter mit Behinderung im Betrieb tätig ist, wie z.B. der Unterstützung von Beschäftigten bei deren Anträgen auf Feststellung einer Behinderung, ihres Grades und einer Schwerbehinderung an die nach § 152 Abs. 1 SGB IX zuständigen Behörden sowie auf Gleichstellung an die Agentur für Arbeit (Rn. 32 der Besprechungsentscheidung; vgl. so auch bereits Knittel, SGB IX, § 94 (a.F.) Rn. 242). Überzeugend ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis des Senats auf die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung als Verbindungsperson im Betrieb zur Bundesagentur für Arbeit und zum Integrationsamt gemäß § 182 Abs. 2 Satz 2 SGB IX. Ferner arbeitet er heraus, dass die Schwerbehindertenvertretung zwar in Bezug auf die in Betrieb bzw. Dienststelle beschäftigten Menschen mit Behinderung „gesetzliches Organ der Verfassung des Betriebs“ ist, dass ihr jedoch weder eine Befugnis zukommt, für die Gruppe der schwerbehinderten Menschen verbindliche kollektive Regelungen zu vereinbaren, noch ihr erzwingbare Mitbestimmungsrechte zustehen (Rn. 33 der Besprechungsentscheidung). Damit aber läuft das Argument des LArbG Köln von einer Vermeidung der Zersplitterung der Vertretungsorgane ins Leere. Das gilt ebenso für das Argument des Gleichlaufs der Beschäftigtenvertretungen. Dem hält das BAG entgegen, dass die Schwerbehindertenvertretung eine autarke Vertretung ist, die auch dann gebildet werden kann, wenn kein Betriebs- bzw. Personalrat besteht (Rn. 35 der Besprechungsentscheidung m.w.N.). Ferner bestehe „die gesetzliche Konzeption eines eigenständig-einheitlichen Regelungsrahmens für Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben und Dienststellen und dessen Einbindung in die besonderen Bestimmungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“. Außerdem begründeten die verschiedenen Regelungskonzepte des BetrVG und des Teiles 3 Kapitel 5 SGB IX gerade keine Übertragung der Rechtsfolge des Erlöschens des Betriebsrates bei Unterschreiten der Zahl von fünf Mitarbeitenden auf die Schwerbehindertenvertretung (Rn. 35 der Besprechungsentscheidung m.w.N.). Das wird vom BAG im Weiteren überzeugend begründet (Rn. 36 ff. der Besprechungsentscheidung).


C.
Kontext der Entscheidung
Hatte Düwell (in: Handkommentar BetrVG, 6. Aufl., § 32 Rn. 15) noch 2021 darauf hingewiesen, dass es bisher höchstrichterlich ungeklärt sei, ob die Amtszeit einer Schwerbehindertenvertretung im Falle des dauerhaften Unterschreitens der in § 177 Abs. 1 Satz 1 SGB IX für die Wahl aufgestellten Mindestzahl endet, so hat die vorliegende Entscheidung endlich die von den Schwerbehindertenvertretungen lang herbeigesehnte Klärung dieser Frage durch das BAG erbracht, und das auch noch zu deren Gunsten. Diese Klärung ist umfassend und überzeugend ausgefallen und hat die Argumentation des Beschwerdegerichts vom schwerbehindertenvertretungsrechtlichen Kopf zurück auf die Füße gestellt. So hatte bereits Schäfer (jurisPR-ArbR 48/2021 Anm. 3) die hier vom BAG aufgehobene Entscheidung des LArbG Köln mit guten Gründen als fehlerhaft abgelehnt. In diesem Zusammenhang war auffällig, dass die weit überwiegende Anzahl der Kommentierungen dieser für die Schwerbehindertenvertretung existenziell sehr wichtigen Frage (vgl. die umfangreichen Nachweise bei Rn. 23 der Besprechungsentscheidung) für einen Fortbestand der Schwerbehindertenvertretung bei Unterschreiten des Quorums von fünf Beschäftigten mit Behinderung plädierten. Zwar muss die Mehrheit nicht immer Recht haben. Dennoch hat das LArbG Köln bei seiner Argumentation die durchaus unterschiedlichen Begründungen nicht hinreichend gewürdigt, sondern sich lediglich auf die in einem Sonderfall ergangene Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen (LArbG Hannover, Beschl. v. 20.08.2008 - 15 TaBV 145/07) gestützt und dabei wesentliche Prinzipien des Schwerbehindertenrechts und wichtige Unterschiede zum Betriebsverfassungsrecht (vgl. Rn. 26 ff. der Besprechungsentscheidung) außer Acht gelassen. Demgegenüber hat das BAG geradezu lehrbuchartig die dem Richter bei der Rechtsanwendung zur Verfügung stehenden Auslegungsmethoden – ausgehend von der grammatikalischen (inkl. Wortlautanalyse) über die historische und systematische Methode bis hin zur teleologischen Methode (inkl. der Auslegung nach Sinn und Zweck der Norm) (vgl. Rn. 24 ff. der Besprechungsentscheidung) – vorgeführt und damit zugleich die besondere Stellung der Schwerbehindertenvertretung als Personalvertretungsgremium im Gefüge von Betrieb bzw. Dienststelle einerseits (Rn. 21 ff. der Besprechungsentscheidung, besonders Rn. 34 ff.), aber andererseits als „Verbindungsperson zur Bundesagentur für Arbeit und zu dem Integrationsamt“ (Rn. 32 der Besprechungsentscheidung) betont. Besonders überzeugend wendet sich das BAG in diesem Zusammenhang gegen das vom Landesarbeitsgericht aufgestellte „Postulat des Gleichlaufs“ von Betriebs- bzw. Personalrat und Schwerbehindertenvertretung (Rn. 34 ff. der Besprechungsentscheidung) und stellt ganz im Gegenteil klar, dass die „Schwerbehindertenvertretung eine autarke Interessenvertretung der schwerbehinderten Beschäftigten ist“. Beeindruckend deutlich arbeitet der Senat heraus, es bestehe „die gesetzliche Konzeption eines eigenständig-einheitlichen Regelungsrahmens für Schwerbehindertenvertretungen in Betrieben und Dienststellen und dessen Einbindung in die besonderen Bestimmungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen“ (Rn. 35 a.E. der Besprechungsentscheidung) und stellt fest, dass dieser durch den vom Landesarbeitsgericht Köln angenommenen Gleichlauf mit Betriebs- und Personalrat konterkariert werde (Rn. 35 a.E. der Besprechungsentscheidung). Ferner arbeitet der Senat die Unterschiedlichkeit in der Konzeption von Betriebsrat und Schwerbehindertenvertretung heraus. Während die Veränderung der Betriebsstärke unter der Voraussetzung des § 13 Abs. 2 Nr. 1 BetrVG zu einer Neuwahl des Betriebsrates außerhalb der regelmäßigen Betriebsratswahlen führe, bleibt die Schwerbehindertenvertretung auch bei steigender Zahl schwerbehinderter Beschäftigter stets eine Ein-Personen-Vertretung (Rn. 38 der Besprechungsentscheidung). Nur so wird gewährleistet, dass eine kompetente Stelle als Ansprechpartner und auch Überwachungsorgan den Arbeitgeber konstruktiv kritisch bei der Erfüllung seiner gesetzlichen Pflicht begleitet, die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten in Betrieb oder Dienststelle wieder zu erhöhen (Knittel, SGB IX, § 94 (a.F.) Rn. 242).
Hat das BAG bis hierher die vom Beschwerdegericht angeführten Gründe Stück für Stück analysiert und begründet abgelehnt, tut es dies schließlich auch mit dem Argument der Beteiligten zu 2), nach dem die im Betrieb in L bestehende Gesamtschwerbehindertenvertretung bei Erlöschen der Schwerbehindertenvertretung im Betrieb in K infolge Absinkens der Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten unter fünf die dort noch verbliebenen schwerbehinderten Arbeitskräfte mitvertrete, deren Interessen also praktisch voll gewahrt wären. Der Senat hält ihr zutreffend entgegen, dass die Mandatserstreckung der Gesamtschwerbehindertenvertretung (auf den Betrieb in L) einen vertretungslosen Zustand voraussetzt, sie aber diesen Zustand nicht begründen könne (Rn. 40 der Besprechungsentscheidung).


D.
Auswirkungen für die Praxis
Hatte sich in den letzten Jahren bei den Schwerbehindertenvertretungen eher der Eindruck verstärkt, dass ihre Rechte zumindest durch die arbeitsgerichtliche Instanz-Rechtsprechung zunehmend eingeschränkt würden (vgl. z.B. LArbG Hamburg, Beschl. v. 22.04.2022 - 7 TaBV 8/21; LArbG Köln, Beschl. v. 31.08.2021 - 4 TaBV 19/21), könnte die vorliegende Entscheidung des BAG den Wendepunkt bringen. Der erkennende Siebte Senat hat sehr deutlich die eigenständige und autarke Position der Schwerbehindertenvertretung in Betrieb und Dienststelle herausgearbeitet und diese deutlich von der Position der Betriebs- und Personalräte abgegrenzt. Zwar besteht zur Euphorie kein Anlass. Dennoch lässt sich auf dieser Entscheidung aufbauen und mit ihrer Hilfe die von den Schwerbehindertenvertretungen als völlig unzureichend kritisierte Aussetzungsklausel in § 178 Abs. 2 Satz 2 SGB IX in eine Unwirksamkeitsklausel verwandeln. So hat das BAG ausdrücklich klargestellt, dass die Schwerbehindertenvertretung in Bezug auf die in Betrieb/Dienststelle schwerbehinderten beschäftigten Menschen gesetzliches Organ der Verfassung des Betriebs/der Dienststelle ist (Rn. 33 der Besprechungsentscheidung m.w.N.). Klar beschreibt der erkennende Senat die Aufgaben der Schwerbehindertenvertretung (vgl. § 178 Abs. 1 Satz 3 SGB IX), nämlich Beschäftigte bei Anträgen auf Feststellung einer Behinderung, ihres Grades und einer Schwerbehinderung an die nach § 152 Abs. 1 SGB IX zuständigen Behörden sowie auf Gleichstellung an die Agentur für Arbeit zu unterstützen sowie die Unterrichtungs-, Beteiligungs-, Anhörungs- und Einsichtsrechte nach § 164 Abs. 1 Satz 4, Satz 6, Satz 7 und Satz 9 SGB IX sowie § 178 Abs. 2 Satz 4 SGB IX. Insbesondere soll die Schwerbehindertenvertretung die Eingliederung derer fördern, die noch nicht zur Belegschaft gehören. Zudem ist die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 182 Abs. 2 Satz 2 SGB IX Verbindungsperson zur Bundesagentur für Arbeit und zum Integrations-/Inklusionsamt, wie das BAG ausdrücklich hervorhebt (vgl. Rn. 32 der Besprechungsentscheidung). Zur Durchsetzung dieser Vielzahl von bedeutenden Aufgaben, die der Gesetzgeber der Vertrauensperson der Beschäftigten mit Behinderung in Betrieb und Dienststelle nach dieser Aufzählung des BAG übertragen hat, stehen der Vertrauensperson Unterrichtungs- und Anhörungsrechte gegenüber dem Arbeitgeber zu, nicht aber Mitbestimmungsrechte. Nach den Angaben einer Vielzahl von Vertrauenspersonen werden diese vielfach vom jeweiligen Arbeitgeber aber weder unterrichtet noch angehört, sei es aus Versehen oder absichtlich. Hier sollte die auch vom BAG besonders hervorgehobene Aufgabe der Schwerbehindertenvertretung zu einer Unwirksamkeit der vom Arbeitgeber ohne Unterrichtung und Anhörung der jeweiligen Vertrauensperson durchgeführten Maßnahmen, die einen Schwerbehinderten oder die Gruppe der betrieblichen Schwerbehinderten betrifft, führen. Sonst hätte der Gesetzgeber sein Ziel der Inklusion von Menschen mit Behinderung auch im Arbeitsleben verfehlt!



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