Dienstreise ist Arbeitszeit – ja was denn sonst?

Professor Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis nimmt Stellung zur arbeitszeitrechtlichen Einordnung von Dienstreisen: „Bei einem so simpel wirkenden Thema wie der Dienstreise überrascht, dass rechtlich einiges in Unordnung geraten zu sein scheint.“ Nicht nur verschiedene Senate des BAG sorgten für Verwirrung und Rechtsunsicherheit – es zeigten sich auch signifikante Wertungswidersprüche zur unionsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH.

Der vorliegende Artikel ist ein Auszug aus juris – Die Monatszeitschrift.

Dienstreise

A. Einführung

„Herr Müller ist auf Dienstreise, voraussichtlich bis zum ...“. Ein Satz, den jeder kennt, sei es in der Rolle als Kollege oder als Kunde. „Das wäre ich auch gerne!“ denkt sich so manch einer und verbindet das Wort Dienstreise unweigerlich mit dem Gefühl von Freiheit und Abenteuer, Erholung und Abwechslung, sieht man einmal von der notwendigen Reisekostenrechnung ab. Noch im Jahr 2006 lehnte der 9. Senat deshalb die These ab, Dienstreisezeit könne Arbeitszeit sein:

„Der Arbeitnehmer kann, während er sich in Beförderungsmitteln aufhält, nach Belieben arbeiten. Ihm steht auch frei, private Angelegenheiten zu erledigen. ‚Dösen‘ oder Schlafen sind ebenso gestattet wie die Einnahme von Getränken oder Speisen. Seine Belastung bleibt damit noch hinter der Beanspruchung durch eine Rufbereitschaft zurück. [...] Dagegen dienen die Fahrzeiten einer Dienstreise lediglich der Beförderung des Arbeitnehmers an den auswärtigen Ort. Er ist nicht damit konfrontiert, jederzeit bei Bedarf unverzüglich die Arbeit aufnehmen zu müssen.“(1)

Dabei hatte schon 1960 das BAG ausgeführt, dass – mangels gegenteiliger tarif- oder einzelvertraglicher Regelung – die An- und Abfahrten, die ein Arbeitnehmer darauf verwendet, um an einen außerhalb des Betriebes seines Arbeitgebers liegenden Arbeitsplatz zu gelangen, eine Arbeitsleistung des Arbeitnehmers sei.(2) Zuletzt entschied das BAG am 17.10.2018 (3) (bestätigt durch BAG vom 18.03.2020):(4)

„Grundsätzlich erbringt der Arbeitnehmer mit dem – eigennützigen – Zurücklegen des Wegs von der Wohnung zur Arbeitsstelle und zurück keine Arbeit für den Arbeitgeber. Anders ist es jedoch, wenn der Arbeitnehmer seine Tätigkeit außerhalb des Betriebs zu erbringen hat. In diesem Falle gehört das Fahren zur auswärtigen Arbeitsstelle zu den vertraglichen Hauptleistungspflichten, weil das wirtschaftliche Ziel der Gesamttätigkeit darauf gerichtet ist, Kunden aufzusuchen – sei es, um dort Dienstleistungen zu erbringen, sei es, um Geschäfte für den Arbeitgeber zu vermitteln oder abzuschließen. Dazu gehört zwingend die jeweilige An- und Abreise, unabhängig davon, ob Fahrtantritt und -ende vom Betrieb des Arbeitgebers oder von der Wohnung des Arbeitnehmers aus erfolgen. [...]

Dasselbe gilt für Reisen, die wegen einer vorübergehenden Entsendung zur Arbeit ins Ausland erforderlich sind. Diese sind fremdnützig und damit jedenfalls dann Arbeit im vergütungsrechtlichen Sinn, wenn sie – wie im Streitfall – ausschließlich im Interesse des Arbeitgebers erfolgen und in untrennbarem Zusammenhang mit der arbeitsvertraglich geschuldeten Arbeitsleistung stehen.“

In den letzten Jahrzehnten der zunehmenden Globalisierung waren Arbeitnehmer vermehrt auf dem Straßen-, See- und Flugweg unterwegs, um an das Ziel ihrer originären Arbeitstätigkeit zu kommen. Im Jahr 2018 sollen rund 189,6 Mio. Geschäftsreisen absolviert worden sein.(5) Nach der Corona-Krise ist absehbar, dass Dienstreisen weniger werden, jedenfalls dort, wo Videokonferenzen und Homeoffice möglich sind. In Ansehung der zahlreichen arbeitsrechtlichen Grenzen und der Vergütungsfolgen wollen Dienstreisen künftig wohlüberlegt sein.

Bei einem so simpel wirkenden Thema wie der Dienstreise überrascht, dass rechtlich einiges in Unordnung geraten zu sein scheint. Verschiedene Senate des BAG (1., 5. und 9. Senat) beantworten die Frage, ob eine Dienstreise Arbeitszeit sei, differenzierend danach, ob es um die vergütungsrechtliche, arbeitszeitrechtliche oder betriebsverfassungsrechtliche Einordnung geht – und bieten damit die Grundlage für einige Verwirrung und Unsicherheit. Nicht nur die nationale Rechtsprechung der verschiedenen Senate des BAG steht in nicht unerheblichem Widerspruch zueinander, es zeigen sich außerdem signifikante Wertungswidersprüche zu der unionsrechtlichen Rechtsprechung des EuGH.

B. Kategorien

I. Arbeitsvertragsrechtlich ist die Dienstreise eine Tätigkeit auf Weisung und im Interesse des Arbeitgebers, für die eine Vergütung nach inzwischen entwickelter Rechtsprechung des 5. Senats des BAG grds. erwartet werden kann.(6) Es kommt nicht auf das Vorliegen zusätzlicher Belastungen oder das Erbringen zusätzlicher Leistungen an, da zu den versprochenen Diensten i.S.d. § 611 Abs. 1 BGB (jetzt: § 611a Abs. 1 BGB) nicht nur die eigentliche Tätigkeit, sondern jede vom Arbeitgeber im Synallagma verlangte sonstige Tätigkeit oder Maßnahme gehört, die mit der eigentlichen Tätigkeit oder der Art und Weise ihrer Erbringung unmittelbar zusammenhängt.(7)

II. In arbeitszeitrechtlicher Hinsicht genügt zur Einordnung der Dienstreise als Arbeitszeit, selbst unter Aufrechterhaltung der (unionsrechtswidrigen) Belastungsthese des BAG, der Hinweis, dass eine unfreiwillige Reise in einem beliebigen Verkehrsmittel keinerlei Erholungswert mit sich bringt, sondern der Gesundheit eher noch abträglich ist. Allein die Freizeitbeschränkung als solche ist belastend.(8) In der Rechtssache Matzak ließ es der EuGH für die Annahme von Arbeitszeit i.S.d. Art. 2 RL 2003/88/EG ausreichen, dass sich ein Arbeitnehmer im Bereitschaftsdienst außerhalb des Betriebs an einem Ort befinden muss, der es ihm ermöglicht, sich innerhalb von acht Minuten am Arbeitsplatz einzufinden. Hierdurch werde objektiv die Möglichkeit des Arbeitnehmers eingeschränkt, sich seinen persönlichen und sozialen Interessen zu widmen.(9) Das Vorliegen zusätzlicher Belastungen oder Arbeitsleistungen ist nicht erforderlich; ausreichend ist die vom Arbeitgeber veranlasste räumliche Einschränkung des Arbeitnehmers.(10) Das kann bei langen Dienstreisen unangenehme Folgen haben. Wenn die Dienstreise, was letztlich der Rechtsprechung durch den EuGH entspricht, Arbeitszeit ist, dann hat dies zur Konsequenz, dass eine Dienstreise nach China – selbst auf dem schnellsten Weg – nicht ohne Verstoß gegen die Höchstgrenzen des Arbeitszeitrechts zu machen ist. Ein absurdes Ergebnis? Es muss nicht China sein, um an die Grenzen des Arbeitszeitrechts zu stoßen. Auch innerdeutsche Dienstreisen können die Grenzen überschreiten. Wer von Düsseldorf nach Berlin und zurück mit Zug oder Personalkraftwagen zu einem dreistündigen Termin reist, ist mindestens 13 Stunden unterwegs. Jedenfalls nach deutschem Arbeitszeitrecht wäre dies unzulässig (gem. § 3 ArbzG liegt die Grenze bei acht bzw. zehn Stunden). Im europäischen Arbeitszeitrecht würde die maßgebliche Grenze von elf Stunden Ruhezeit gerade noch gewahrt (Art. 3 RL 2003/88/EG). Zur Vermeidung derartiger Widersprüche hat der Gesetzgeber die Möglichkeit, Höchstarbeitszeiten zu modifizieren. Speziell für die Frage der Dienstreise findet sich eine Öffnungsklausel in Art. 17 Abs. 3 Buchst. a) RL 2003/88/EG. Aus der Rechtsprechung des EuGH ergibt sich als Zulässigkeitsvoraussetzung für alle Abweichungen, dass Art und Umfang der Abweichung unbedingt erforderlich sein müssen, sodass bloße Praktikabilitätserwägungen nicht ausreichen dürften.(11) Entsprechend der Anforderungen des Art. 17 Abs. 2 RL 2003/88/EG muss die Abweichungsregelung einen gleichwertigen Ausgleichsruhezeitraum vorsehen, der grds. aus einer Anzahl zusammenhängender Stunden entsprechend der vorgenommenen Kürzung bestehen und vor Beginn der folgenden Arbeitsperiode gewährt werden muss.(12)

III. Mitbestimmungsrechtlich steht für Fragen der Arbeitszeit der Schutz der Freizeit und des Privatlebens im Fokus – eine Dienstreise, die außerhalb der regulären Arbeitszeit vorgenommen wird, betrifft diese Aspekte entgegen der Auffassung des BAG in besonderem Maße.(13) Denn zur Frage der betrieblichen Mitbestimmung bei Dienstreisezeiten hielt der 1. Senat zwar fest, dass Arbeitszeit i.S.d. § 87 Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 BetrVG die Zeit sei, während derer der Arbeitnehmer die von ihm in einem bestimmten zeitlichen Umfang vertraglich geschuldete Arbeitsleistung tatsächlich erbringen soll.(14) Der Arbeitnehmer erbringe jedoch durch das Reisen im Zusammenhang mit einer Dienstreise als solche keine Arbeitsleistung in diesem Sinne.(15) Obwohl sich das Begriffsverständnis des 1. Senats also inhaltlich mit der Definition der Arbeit des 5. Senats deckt – entscheidend ist die Erbringung einer fremdnützigen Tätigkeit – subsumiert der 1. Senat die Reisetätigkeit im Zusammenhang mit Dienstreisen nicht hierunter. Er fordert vielmehr die Erbringung einer zusätzlichen Tätigkeit auf Weisung des Arbeitgebers und lässt die Reise als solche – entgegen seiner eigenen Definition und ohne tragende Begründung – nicht genügen.(16)

[…]

(1) BAG, Urt. v. 11.07.2006 - 9 AZR 519/05 Rn. 44 f.; zustimmend: Neumann/Biebl, ArbZG, § 2 Rn. 15 m.w.N.

(2) BAG, Urt. v. 08.12.1960 - 5 AZR 304/58 Rn. 15.

(3) BAG, Urt. v. 17.10.2018 - 5 AZR 553/17 Rn. 14 – 15.

(4) BAG, Urt. v. 18.03.2020 - 5 AZR 36/19.

(5) https://de.statista.com/statistik/daten/studie/72112/umfrage/anzahl-der-geschaeftsreisen-seit-2004/ (zuletzt abgerufen am 27.08.2020).

(6) Vgl. BAG, Urt. v. 17.10.2018 - 5 AZR 553/17 Rn. 11 ff.

(7) BAG, Urt. v. 17.10.2018 - 5 AZR 553/17 Rn. 13.

(8) So auch, allerdings im Kontext der Vergütung, Staack/Sparchholz, AiB 2013, 99, 101.

(9) EuGH, Urt. v. 21.02.2018 - C-518/15 - „Matzak“.

(10) EuGH, Urt. v. 21.02.2018 - C-518/15 - „Matzak“.

(11) Ulber in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 7.223.

(12) EuGH, Urt. v. 23.12.2015 - C-180/14 Rn. 52 f.; Ulber in: Preis/Sagan, Europäisches Arbeitsrecht, 2. Aufl. 2019, § 7 Rn. 7.240 f.

(13) Klebe in: Däubler/Kittner/Klebe/Wedde, BetrVG, 16. Aufl. 2018, § 87 BetrVG Rn. 83, 123.

(14) BAG, Beschl. v. 14.11.2006 - 1 ABR 5/06 Rn. 27, 32.

(15) BAG, Beschl. v. 14.11.2006 - 1 ABR 5/06 Rn. 27, 32.

(16) Vgl. BAG, Beschl. v. 14.11.2006 - 1 ABR 5/06 Rn. 28; BAG, Urt. v. 11.07.2006 - 9 AZR 519/05 Rn. 44.



Professor Dr. Dr. h.c. Ulrich Preis

  • Professor an der Universität zu Köln
  • Direktor des Instituts für deutsches und europäisches Arbeits- und Sozialrecht der Universität zu Köln
  • Vizepräsident des Deutschen Arbeitsgerichtsverbandes e.V., Vorstand der Arbeitsrechtslehrer
  • Ehrendoktorwürde der Universität Athen
  • Unabhängiges Mitglied von Schiedskommissionen im kirchlichen und kassenarztrechtlichen Bereich. Vorträge, Publikationen und Gutachten zu allen Fragen des Arbeits- und Sozialrechts

Lesen Sie mehr

Der Arbeitsvertrag

juris Arbeitsrecht Premium

Mit juris immer auf dem aktuellen Stand

Wählen Sie ein passendes Produkt und testen Sie das Angebot von juris 30 Tage lang kostenfrei.