Bindung der Tarifparteien an Art. 3 Abs. 1 GGLeitsätze 1. Die Tarifautonomie umfasst auch die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge in den tarifgebundenen Individualarbeitsverhältnissen. Diese verbindliche Wirkung erweitert und gefährdet die individuelle Freiheit der Tarifgebundenen. Das Koalitionsgrundrecht schützt die Mitglieder der Tarifvertragsparteien vor den mit der verbindlichen Wirkung verbundenen Freiheitsgefährdungen, indem die Tarifvertragsparteien jedenfalls den allgemeinen Gleichheitssatz bei der Tarifnormsetzung grundsätzlich zu achten haben. 2. a) Die Bindung an den allgemeinen Gleichheitssatz erfordert zugleich, den Zweck der Tarifautonomie, eine grundsätzlich autonome Aushandlung der Tarifregelungen zu ermöglichen, und den damit einhergehenden Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen; dies begrenzt die richterliche Kontrolldichte. b) Wie weit die Gestaltungsspielräume der Tarifvertragsparteien im Einzelnen reichen, ist insbesondere abhängig von Regelungsgegenstand, Komplexität der Materie, den betroffenen Grundrechten sowie Art und Gewicht der Auswirkungen für die Tarifgebundenen. c) Die Spielräume der Tarifvertragsparteien sind im Ausgangspunkt umso weiter, je näher die geregelten Sachverhalte am Kernbereich von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen. d) Die Spielräume sind insbesondere dann enger, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Minderheiten betroffen sind und diese oder spezifische Gruppeninteressen systematisch vernachlässigt wurden. 3. Bei Tarifnormen, deren Gehalte im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen und bei denen spezifische Schutzbedarfe nicht erkennbar sind, ist die gerichtliche Kontrolle am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG angesichts der durch Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Spielräume der Tarifvertragsparteien auf eine Willkürkontrolle beschränkt. 4. Bei der Bestimmung der Rechtsfolgen gleichheitswidriger Tarifnormen müssen die Gerichte die Koalitionsfreiheit der Tarifvertragsparteien und insbesondere deren Spielräume in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beachten. Dieser grundrechtliche Spielraum setzt sich bei der Tarifnormsetzung im Falle verschiedener Möglichkeiten zur Beseitigung der Ungleichbehandlung als grundsätzlich primäre Korrekturkompetenz fort. Die erforderliche partielle Neuordnung der Arbeits- und Wirtschaftsbeziehungen zur Beseitigung einer Unvereinbarkeit von Tarifnormen mit der Verfassung ist auch im Rahmen der Rechtsfolgenbestimmung im Individualprozess im Ausgangspunkt den Tarifpartnern als ursprünglichen Normgebern zu überlassen. - A.
Problemstellung Zwei Tarifverträge sahen gleichermaßen für „Nachtarbeit“ einen Zuschlag von 50% vor, während dieser für „Nachtschichtarbeit“ nur 25% betragen sollte. Zwei tarifgebundene Arbeitnehmer, die im Dreischichtsystem, also auch nachts arbeiteten, hielten diese Differenzierung für gleichheitswidrig und klagten auf Gewährung eines 50%-Zuschlages. Das BAG hatte ihrer Klage stattgegeben. Die Regelung verstoße gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG und sei durch eine „Angleichung nach oben“ zu korrigieren. Alle nachts Arbeitenden kamen so zu einem Zuschlag von 50%. Die betroffenen Arbeitgeber und ihre jeweiligen Verbände legten dagegen Verfassungsbeschwerde ein. Dabei stellte sich eine Reihe grundlegender Fragen.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung I. Zulässige und unzulässige Verfassungsbeschwerden Nach Auffassung des BVerfG waren die beiden Arbeitgeber-Unternehmen in ihrer Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG betroffen. Zu dieser gehöre auch die Verbindlichkeit der tariflichen Regelungen in den tarifgebundenen Arbeitsverhältnissen. Dies war bisher in dieser Deutlichkeit noch nicht gesagt worden. Da die Nachtschichtarbeitnehmer nicht die tariflichen 25%, sondern 50% zugesprochen erhielten, war insoweit eine unmittelbare und gegenwärtige Betroffenheit der Beschwerdeführer gegeben. Auch die tarifschließenden Verbände waren in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG betroffen. Den von ihnen vereinbarten tariflichen Zuschlagsregelungen über die Nachtschichtarbeit werde die rechtliche Wirkung genommen und jenen über die Nachtarbeit eine zusätzliche rechtliche Wirkung zuerkannt (Rn. 113). Es genüge, dass die Tarifnormen ihre rechtliche Verbindlichkeit im Verhältnis zu den beiden Klägern verlieren würden. Dennoch erwiesen sich die Verfassungsbeschwerden der beiden Verbände als unzulässig, da nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft waren, um die eigene Rechtsposition vor den Fachgerichten zur Geltung zu bringen. Es hätte die Möglichkeit einer Nebenintervention in den Verfahren der beiden Kläger bestanden, daneben auch – davon unabhängig – die Einleitung eines Verfahrens nach § 9 TVG, um die Wirksamkeit der beiden Klauseln klären zu lassen. Davon war kein Gebrauch gemacht worden, so dass der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerden nicht gewahrt war. II. Art. 9 Abs. 3 GG und seine Grenzen 1. Der Abschluss von Tarifverträgen als Grundrechtsausübung In kollektivrechtlicher Hinsicht schütze das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG „insbesondere die Gründung, den Bestand und die spezifisch koalitionsmäßige Betätigung.“ Es umfasse insbesondere die Tarifautonomie, die im Zentrum der den Koalitionen eingeräumten Möglichkeiten zur Verfolgung ihrer Zwecke stehe. Diese Freiheit bei der eigenverantwortlichen Austragung der Interessengegensätze finde ihren Grund in der historischen Erfahrung, dass auf diese Weise eher Ergebnisse erzielt werden, die den Interessen der widerstreitenden Gruppen und dem Gemeinwohl gerecht werden, als bei einer staatlichen Schlichtung. Geschützt sei insbesondere der autonome Abschluss von Tarifverträgen, was „den Bestand und die Anwendung“ abgeschlossener Tarifverträge einschließe. Der Schutz des Art. 9 Abs. 3 GG umfasse auch, „sich auf die Ergebnisse der in kollektiver Privatautonomie ausgehandelten Vereinbarungen zu berufen“ (Rn. 138). Im konkreten Fall sei den Beschwerdeführern die Berufung „auf die tarifvertraglichen Ergebnisse der Mitgliedschaft in der Koalition verwehrt“. Gemeint ist damit allein die Klausel, dass der Zuschlag für Nachtschichtarbeitnehmer 25% betragen solle. 2. Begrenzung durch den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit sei „zwar vorbehaltlos, aber nicht schrankenlos“ gewährleistet. Die Kollektivierung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen könne die individuelle Freiheit, die durch die rechtsverbindliche Wirkung der Tarifverträge grundsätzlich erweitert werde, auch gefährden. Die Mitglieder hätten regelmäßig keinen unmittelbaren Einfluss auf die konkreten Tarifverhandlungen, deren Ergebnisse für sie rechtsverbindlich würden. Sie seien darauf angewiesen, dass ihre Interessen in den Verhandlungen tatsächlich angemessen repräsentiert und in den Ergebnissen angemessen abgebildet würden. „Eine Garantie dafür, dass sich eine im innerverbandlichen Willensbildungsprozess gefundene Position im kontradiktorischen Interessenausgleich mit dem sozialen Gegenspieler niederschlägt, besteht nicht.“ (Rn. 149). Dieses Risiko sei der notwendige Preis der Kollektivierung und könne auch durch einen Austritt nicht vollständig beseitigt werden. Auch der innerverbandliche Gleichbehandlungsgrundsatz biete keinen hinreichenden Schutz (Rn. 151). Die Tarifparteien seien deshalb an Art. 3 Abs. 1 GG gebunden, was weder gegen Art. 1 Abs. 3 GG verstoße noch im Widerspruch zur Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes stehe (Rn. 152). Auch bedürfe diese Frage keiner ausdrücklichen gesetzlichen Normierung (Rn. 154). 3. Die Bindung der Tarifparteien an andere Grundrechte Bei der Anwendung des Gleichheitssatzes müsse der mit der Tarifautonomie einhergehende „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum“ der Tarifparteien berücksichtigt werden. Das führe zu einer geringeren richterlichen Kontrolldichte, die sich im vorliegenden Fall auf eine Willkürkontrolle beschränke (Rn. 158). Die Entscheidungsfreiheit der Tarifparteien wird recht pointiert in der Weise umschrieben, sie seien sogar befugt, „Regelungen zu treffen, die die Betroffenen im Einzelfall für ungerecht halten und die für Außenstehende nicht zwingend sachgerecht erscheinen“ (Rn. 160). Weiter heißt es: „Dieser grundrechtlich geschützte Gestaltungsspielraum wird jedoch durch die Grundrechte der Mitglieder der Tarifvertragsparteien begrenzt, mit denen er in Ausgleich zu bringen ist.“ (Rn. 161). Hier ist nicht nur von der Bindung an den Gleichheitssatz, sondern an alle Grundrechte die Rede – eine Aussage, die dadurch bestätigt wird, dass sich das Minderheitsvotum von Wolff ausdrücklich von der generellen Grundrechtsbindung distanziert. Damit ist im Grunde eine neue Form der Grundrechtsbindung geschaffen, die weder mit der unmittelbaren noch mit der mittelbaren Bindung bisherigen Zuschnitts übereinstimmt. Man könnte von einer Abwägungs- oder Differenzierungstheorie sprechen. 4. Die Handhabung des Art. 3 Abs. 1 GG Die bei der Abwägung zu berücksichtigenden Gestaltungsspielräume der Tarifparteien seien „umso weiter, je näher die geregelten Sachverhalte am Kernbereich von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen. (Rn. 161). Die Gestaltungsspielräume seien insbesondere dann enger, wenn tarifvertragliche Differenzierungen an personenbezogene Merkmale anknüpfen oder Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Minderheiten betroffen sind und diese oder spezifische Gruppeninteressen systematisch vernachlässigt wurden. Im Kernbereich der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bestehe nur eine Willkürkontrolle, wenn „spezifische Schutzbedarfe oder Anhaltspunkte für eine Vernachlässigung von Minderheitsinteressen nicht erkennbar sind“ (Rn. 163). Bei der Bestimmung der „Willkür“ wird auf die ältere Rechtsprechung des Gerichts zur Kontrolle von Gesetzen zurückgegriffen, wonach die „ungleiche Behandlung der Sachverhalte nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo also ein einleuchtender Grund für die Differenzierung fehlt“ (Rn. 164). Dabei kommt es allein darauf an, ob sich ein vernünftiger Grund für die Regelung finden lässt; ob er im Rechtsetzungsprozess eine Rolle gespielt hat, ist ohne Bedeutung (Rn. 168). Die beanstandeten Zuschlagsregelungen liegen im Kernbereich der von Art. 9 Abs. 3 GG geschützten Gestaltungskompetenz der Tarifvertragsparteien. Auch werde nicht an personenbezogene Merkmale i.S.d. Art. 3 Abs. 3 GG angeknüpft. Die Differenzierung zwischen Nachtarbeit und Nachtschichtarbeit sei nicht willkürlich in dem beschriebenen Sinne. Die Nachschichtarbeit ermögliche angesichts der vorherigen Ankündigung der Schichtpläne eine bessere Planung der Familien- und Freizeitgestaltung (Rn. 185); dass sich dieser Zweck nicht aus dem Tarifwortlaut ergebe, sei unerheblich. Auch werde die Belastung durch die Nachtschichtarbeit nicht nur finanziell, sondern auch durch Schichtfreizeiten ausgeglichen, die nach der Art des Einsatzes unterschiedlich ausgestaltet seien. Ein naheliegender sachlicher Grund könne auch die Verteuerung der (sich nicht aus einem Schichtplan ergebenden) Nachtarbeit sein, um so den Arbeitgeber zu einer vorausschauenden Planung des Produktionsprozesses zu bewegen. 5. Verletzung der Art. 9 Abs. 3 GG durch „Anpassung nach oben“ Auch bei der Bestimmung der Rechtsfolgen gleichheitswidriger Tarifnormen müssen die Gerichte die Spielräume der Tarifparteien in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht beachten. Diesen kommt daher eine primäre Korrekturkompetenz zu (Rn. 199). Soweit sich eine Lösung nicht schon aus dem Tarifvertrag ergibt und verschiedene Möglichkeiten zur Beseitigung des Gleichheitsverstoßes offenstehen, müssen grundsätzlich die Tarifparteien aktiv werden. Was die Regelung für die Zukunft angeht, so besteht in der Regel kein Vertrauensschutz. Tariflichen Bestimmungen ist die Möglichkeit künftiger Änderungen immanent; deshalb kommt eine gerichtliche „Anpassung nach oben“ (wie in den Ausgangsverfahren) in der Regel nicht in Betracht. Die Tarifparteien sind wie der staatliche Gesetzgeber grundsätzlich auch zu einer Korrektur eines verfassungswidrigen Zustands für die Vergangenheit befugt. Einer entsprechenden Pflicht zur „Rückabwicklung“ stehen allerdings die meist vereinbarten tariflichen Verfallklauseln entgegen (Rn. 215). Wenn die Tarifparteien eine neue Regelung treffen, müssen sie strukturell vergleichbare Vorgaben wie der Gesetzgeber beachten. Bei Regelungen mit echter Rückwirkung ist das Vertrauen der Normunterworfenen grundsätzlich schützenswert (Rn. 218). Anders als im Verhältnis von Staat und Bürger kann allerdings häufig der Vertrauensschutz bei beiden Seiten anerkennenswert sein (Rn. 219). Dies führt dazu, dass eine „Anpassung nach oben“ nicht durch den Gedanken des Vertrauensschutzes gerechtfertigt sein kann. Das BAG hätte vielmehr das Verfahren aussetzen und die Tarifparteien auffordern müssen, auch für die Vergangenheit für einen möglichst schonenden Ausgleich der beiderseitigen Interessen zu sorgen (Rn. 230).
- C.
Kontext der Entscheidung Das BVerfG hat zahlreiche Grundsatzfragen der Koalitionsfreiheit und der Tarifautonomie behandelt, die zum Teil seit Jahrzehnten diskutiert werden. Es ist dabei zum Teil eigene Wege gegangen, die nicht unbedingt mit allgemeiner Akzeptanz rechnen können. I. Grundrechtsbindung der Tarifparteien Das BVerfG zeichnet ein durchaus realistisches Bild der Situation des einzelnen Gewerkschaftsmitglieds, dessen spezifische Interessen ggf. unter den Tisch fallen. Das für Gewerkschaften verbindliche Demokratieprinzip wird nur am Rande erwähnt, da die Verhandlungspartner „trotz vorhergehender binnendemokratischer Beteiligung“ abwägen, welche Interessen und Forderungen zum Gegenstand der Verhandlungen gemacht werden (Rn. 149). Selbst ein perfekt funktionierender demokratischer Aufbau würde im Übrigen der Grundrechtsbindung nicht entgegenstehen, da diese auch bei hoheitlichem Handeln eines demokratischen Staates oder einer demokratisch verfassten Gemeinde besteht: Die Interessen einzelner Personen oder bestimmter Gruppen könnten sonst auch dort unter den Schlitten kommen. Dies kann nicht nur für Gleichheitsrechte, sondern muss auch für Freiheitsrechte gelten. Würde ein Tarifvertrag etwa das Recht ausschließen, aus Gewissensgründen eine bestimmte Arbeit zu verweigern (für ein solches Recht etwa BAG, Urt. v. 24.05.1989 - 2 AZR 285/88 - DB 1989, 2538), so wäre ein solcher Fall gegeben. Ein zukunftsgerichteter Austritt aus dem Verband gewähre keinen unmittelbaren hinreichenden Schutz (Rn. 150). Dies trifft nur für Arbeitnehmer zu: Treten sie aus der Gewerkschaft aus, gelten die Tarifverträge in aller Regel kraft Bezugnahmeklausel im Arbeitsvertrag weiter. Kommt aus der Situation des Arbeitnehmers heraus ein Arbeitsplatzwechsel in Betracht, ist die Situation im Prinzip die gleiche. In einen anderen tarifgebundenen Betrieb muss er mit derselben Situation rechnen, in tarifungebundenen Betrieben bestehen häufig schlechtere Lohn- und Arbeitsbedingungen. Für Arbeitgeber ist die Situation eine andere: Zwar wirken bei einem Austritt die Tarifverträge nach § 3 Abs. 3 TVG fort, doch gilt dies nur so lange, wie diese nicht geändert werden. Ist dies der Fall, wirken sie nur noch nach § 4 Abs. 5 TVG nach. Gravierender ist die Tatsache, dass die „Ankoppelung“ an die Tarifentwicklung entfällt, so dass Entgelterhöhungen nicht mehr wirksam werden. Dieselben Effekte ergeben sich, wenn das Unternehmen in die OT-Mitgliedschaft wechselt. Hier hätte das Gericht differenzieren müssen; Arbeitgeber können sich einer Freiheitseinschränkung sehr viel leichter entziehen als Arbeitnehmer. Insoweit läge es nahe, auch bei der Grundrechtsbindung zu differenzieren. II. Die Abwägung mit dem Gestaltungsspielraum der Tarifparteien Den Tarifparteien stehen bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielräume“ zur Verfügung (Rn. 160). Insoweit hat eine Abwägung mit dem jeweiligen Grundrecht stattzufinden. Dies wird in Bezug auf Art. 3 Abs. 1 GG konkretisiert. Je näher die geregelten Sachverhalte am „Kernbereich“ von Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen liegen, umso größer ist der Gestaltungsspielraum der Tarifparteien. Entsprechend wird die gerichtliche Kontrolldichte geringer, so dass im konkreten Fall nur eine „Willkürkontrolle“ Platz greift. Ein gewisses Erstaunen erweckt die „Wiederbelebung“ des Kernbereichs: Seit der BVerfG-Entscheidung vom 14.11.1994 (1 BvR 601/92 - BVerfGE 93, 352 ff.) war er nur noch als Grenze für Eingriffe des Gesetzgebers relevant, die aber in der Praxis nicht vorkamen. Nun muss man sich erneut der Frage stellen, welche Gegenstände zum „Kernbereich“ der Tarifautonomie gehören und welche zum „Randbereich“. Zu ersterem gehören mit hinreichender Sicherheit Entgelt und Arbeitszeit, zumal das Urteil die Nachtarbeitszuschläge ausdrücklich dazu rechnet. Nur: Warum soll hier die Gestaltungsfreiheit der Tarifparteien größer als bei anderen Fragen sein? Hier geht es doch um Materien, die das Leben des einzelnen Arbeitnehmers besonders stark prägen, von deren Lösung er in vieler Hinsicht abhängig ist. Werden hier (seine) Interessen „zurückgestellt“, kann dies viel schmerzlicher sein, als wenn z.B. die erwünschte Regelung über die Freiheit zu Nebentätigkeiten nicht zustande kommt. Gerade wenn man wie das Gericht auf die (gefährdeten) Interessen des Einzelnen abstellt, müsste man im Grunde umgekehrt verfahren und die gerichtliche Kontrolle in diesem Bereich verstärken. Betrachtet man nur die Norm des Art. 9 Abs. 3 GG und ihre Interpretationsgeschichte, so mag die Entscheidung des BVerfG plausibel sein. Nimmt man jedoch seine eigene Sicht des Verhandlungsprozesses ernst, muss man zu einem gegenteiligen Ergebnis kommen. Wird eine Regelung am Maßstab des Art. 3 Abs. 1 GG gemessen, so kann man sich eine unterschiedliche Kontrolldichte durchaus vorstellen. Sie wird schon in anderen Zusammenhängen praktiziert. wenn z.B. die unterschiedliche Behandlung von Personengruppen nur dann vor dem Gleichheitssatz Bestand hat, wenn über das Willkürverbot hinaus auch die Verhältnismäßigkeit gewahrt ist (vgl. etwa BVerfG, Beschl. v. 04.04.2001 - 2 BvL 7/98 - BVerfGE 103, 310 ff.), also die unterschiedliche Behandlung in einem angemessenen Verhältnis zu den realen Unterschieden steht. Doch wie steht es mit den Diskriminierungsverboten nach Art. 3 Abs. 3 GG, bei denen ein solcher Spielraum bisher nicht vorhanden ist? Vermutlich wird hier die Gestaltungsfreiheit der Tarifparteien definitiv zurückstehen müssen. Doch es stellen sich noch weitere Fragen: Wie ist das differenzierte System der Grundrechtsbindung bei den Freiheitsrechten beschaffen? Unterstellt, die Tarifparteien würden das beamtenrechtliche Gebot der Mäßigung und Zurückhaltung bei politischer Betätigung (§ 60 Abs. 2 BBG) auf die Arbeitsverhältnisse des öffentlichen Dienstes erstrecken, so wäre dies ein tariflicher Eingriff in die Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG. Wäre dem Gestaltungsspielraum der Tarifparteien in der Weise zu entsprechen, dass nur besonders unerwünschte Meinungsäußerungen oder solche, die kein Problem von allgemeinem Interesse zum Gegenstand haben, verboten, andere aber erlaubt wären? Die neue Herangehensweise an die Grundrechtsbindung wirft viele Folgefragen auf, deren Beantwortung notwendigerweise mit zahlreichen Zweifelsfragen behaftet ist. Auf diese Weise entsteht Rechtsunsicherheit auch in solchen Bereichen, wo bisher alles geklärt schien. Dies macht den neuen Ansatz nicht unzulässig, aber man muss sich die Frage stellen, ob der ggf. erstrebte Gerechtigkeitsgewinn diesen Nachteil wirklich rechtfertigt. III. Die Rechtfertigung der Tarifgeltung mit dem Konzept der kollektiven Privatautonomie Das BVerfG geht in seinem Urteil durchgehend davon aus, dass Tarifverträge Ergebnis „kollektiver Privatautonomie“ seien (vgl. etwa Rn. 5, 9, 138). Eine eigene Begründung wird dafür nicht gegeben, so dass letztlich auch eine definitive Festlegung des Gerichts in diesem Punkt eher fernliegt. Bei der gegebenen Beschreibung des Diskussionsstands fällt allerdings die durchaus verbreitete Kritik an diesem Ansatz unter den Tisch, obwohl sich das Urteil ansonsten durch eine sehr gründliche Auswertung der Literatur auszeichnet. Rechtsdogmatische Qualifizierungen haben den Sinn, die Rechtsanwendung zu erleichtern. Sie machen u.a. die hinter einem Regelungskomplex stehenden Grundvorstellungen deutlich, was bei der Auslegung wie beim Füllen von Lücken von großem Nutzen ist. Elementare Voraussetzung ist dabei, dass die entwickelte Begrifflichkeit alle Elemente des fraglichen Sachbereichs widerspruchsfrei erklären kann. Das ist beim Konzept der „kollektiven Privatautonomie“ keineswegs der Fall. Betrachtet man die einzelnen Arbeitnehmer (und Arbeitgeber) als Träger der Autonomie, so ist es in hohem Maße fiktiv, den Beitritt als Einverständnis mit allen künftigen Tarifabschlüssen zu werten. Im Gesellschafts- und Verbandsrecht wäre eine so weitgehende Unterwerfungserklärung wegen Unbestimmtheit unwirksam (Wiedemann, BB 2013, 1397, 1400); im AGB-Recht würde sie an fehlender Transparenz scheitern. Das BVerfG scheint demgegenüber nicht den Einzelnen, sondern Gewerkschaft und Arbeitgeberverband als Träger der Autonomie anzusehen. Dies mag auf den ersten Blick sehr viel plausibler sein, doch lässt sich auf diese Weise nicht erklären, dass Tarifverträge häufig auch Nichtmitglieder binden. Dies ist bei betrieblichen und betriebsverfassungsrechtlichen Normen nach § 3 Abs. 2 TVG der Fall, die für alle im Betrieb tätigen Arbeitnehmer gelten – Tarifbindung des Arbeitgebers vorausgesetzt. Wird ein Tarifvertrag nach § 5 TVG für allgemeinverbindlich erklärt oder nach den §§ 3, 7 AEntG durch Rechtsverordnung auf die Außenseiter erstreckt, so gilt der „privatautonome“ Tarifvertrag für die Nichtmitglieder beider Seiten kraft staatlichen Hoheitsakts. Wird die Einsatzdauer von Leiharbeitnehmern über die gesetzlichen 18 Monate hinaus durch Tarifvertrag verlängert, so wirkt dieser auch dann im Einsatzbetrieb, wenn weder der Leiharbeitnehmer noch sein Arbeitgeber, d.h. der Verleiher, an den Tarifvertrag gebunden sind (BAG, Urt. v. 14.09.2022 - 4 AZR 83/21). Weiter ist auf § 3 Abs. 3 TVG zu verweisen, wonach ein Tarifvertrag auch dann fortgilt, wenn der Arbeitnehmer oder der Arbeitgeber aus seinem Verband austritt. Schließlich hat ein Tarifvertrag erhebliche „Fernwirkungen“ im Betriebsverfassungsrecht. Zu denken ist insbesondere an § 77 Abs. 3 Satz 1 BetrVG, der Betriebsvereinbarungen im Geltungsbereich eines Flächentarifs für unwirksam erklärt, auch wenn der Arbeitgeber nicht tarifgebunden ist; eine Ausnahme gilt lediglich bei der Ausübung von Mitbestimmungsrechten. Die so errichtete „Sperre“ wirkt gleichermaßen für Mitglieder wie für Außenseiter. Alle diese gesetzlich angeordneten Wirkungen lassen sich nicht mit dem Gedanken der Privatautonomie erklären, wobei es nicht darauf ankommt, ob der Einzelne oder die Organisation als maßgebendes Privatrechtssubjekt angesehen wird. Es liegt daher sehr viel näher, Parallelen zur kommunalen Selbstverwaltung zu ziehen oder eine spezifische staatlich anerkannte und partiell geregelte Selbstbestimmungsordnung anzunehmen. In der Literatur hat das Konzept der kollektiven Privatautonomie jedenfalls viel Kritik erfahren (Franzen in: Müller-Glöge/Preis/Gallner/Schmidt, ErfKomm zum Arbeitsrecht, 25. Aufl. 2025, § 1 TVG Rn. 6; Gamillscheg, Kollektives Arbeitsrecht, Band I, 1997, S. 560 ff.; Greiner, Rechtsfragen der Koalitions-, Tarif- und Arbeitskampfpluralität, 2010, S. 99; Hensche in: HK-ArbR, 5. Aufl. 2022, Art. 9 GG Rn. 94; Rödl, SR 2022, 217 ff.; Thüsing in: Wiedemann, TVG, 9. Aufl. 2023, § 1 Rn. 56 („Normsetzung sui generis“); Wiedemann, BB 2013, 1397 ff.; Däubler in: Däubler, TVG, 5. Aufl. 2022, Einl. Rn. 145 ff.). Dies hätte das BVerfG berücksichtigen sollen, um sich gegen erwartbare Angriffe besser abzusichern.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Neben der Grundrechtsbindung der Tarifparteien als solcher und der partiellen Zurücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte ist für die Praxis insbesondere von Bedeutung, dass die Rechtsfolgen eines Gleichheitsverstoßes in erster Linie Gegenstand neuer Verhandlungen zwischen den Sozialpartnern sein müssen. Dies war bisher eine Ausnahme, die meist auf der freiwilligen Entscheidung der Tarifparteien beruhte. Ein Beispiel stellt etwa die altersabhängige Urlaubsdauer nach § 26 Abs. 1 TVöD dar, die vom BAG mit Recht als Altersdiskriminierung qualifiziert wurde (BAG, Urt. v. 20.03.2012 - 9 AZR 529/10 - NZA 2012, 803 ff.), worauf es alsbald zu einer quasi kostenneutralen tariflichen Neuregelung kam. Im Regelfall fällt es den Tarifparteien schwer, eine „außerordentliche Tarifrunde“ zu veranstalten. Soweit nur relativ sekundäre Punkte des tariflichen Gesamtpakets berührt sind, mag sich dies in zwei oder drei Sitzungen erledigen lassen, doch sieht es anders aus, wenn es um zentrale Punkte der Vergütung oder der Arbeitszeit geht. Wünscht das BVerfG hier wirklich einen langen Prozess der Aufstellung von Forderungen, der Verhandlungen, der Schlichtung und ggf. des Streiks? Oder soll schon nach zwei ergebnislosen Treffen die Kompetenz zur Anpassung an die neue Situation an die Gerichte zurückfallen? Hier werden die Betroffenen allein gelassen. Auch in der Literatur finden sich keine überzeugenden Lösungen (konstatiert bei Spelge, NZA 2025, 288 ff.). Am ehesten wäre in Anlehnung an § 140 BGB auf den hypothetischen Willen der Tarifparteien abzustellen (vgl. Bepler in: FS I. Schmidt, 2021, S. 67, 73). Obwohl die Gefahr von Unterstellungen nicht von der Hand zu weisen ist, ja sich geradezu aufdrängt, wäre diese Lösung am ehesten geeignet, eine den Vorstellungen und Interessen beider Seiten entsprechende Regelung zu erreichen. Nur auf Wunsch beider Tarifparteien sollte das gerichtliche Verfahren unterbrochen und die Möglichkeit zur einvernehmlichen Neuregelung eröffnet werden. Dazu kommt, dass die automatische Anpassung nach oben, auch für die zurückliegende Zeit infrage gestellt wird. Dies war in der Vergangenheit so gut wie nie der Fall. Vertrauensschutz würden nicht nur die Arbeitnehmer, sondern auch die Arbeitgeber genießen – was schwer zu bestreiten ist. Nur: Wie stellt sich das Gericht die Rückabwicklung vor, wenn im konkreten Fall die Nachtschichtarbeiter ihre zu Unrecht erhaltenen zusätzlichen 25% zurückzahlen müssen? Verwiesen wird auf Ausschlussklauseln, die die Rückzahlung in der Regel auf drei Monate begrenzen, doch sind auch Fälle denkbar, in denen solche Ausschlussklauseln fehlen oder viel längere Zeiträume vorsehen. Und wie steht es hier mit dem Wegfall der Bereicherung nach § 818 Abs. 3 BGB? Es eröffnen sich ungeahnte Auseinandersetzungsfelder, die dem friedlichen Fortgang der Arbeit höchst abträglich sind. Erfahrungsgemäß kommt es zu sehr viel mehr Gegenwehr, wenn jemandem etwas entzogen werden soll, das er schon hat, während es leichter hinnehmbar erscheint, wenn man in der Zukunft weniger als erwartet bekommt, weil beispielsweise die Lohnsteigerungen die Inflationsrate nicht erreichen. Es wäre gut gewesen, hätte das Gericht einige Personalleiter und Betriebsräte befragt, wie eine „rückwirkende Anpassung“ wohl funktionieren würde. § 27a BVerfGG („Das BVerfG kann sachkundigen Dritten Gelegenheit zur Stellungnahme geben“) hätte ihm dazu die Möglichkeit gegeben. In anderen Fällen hat das Gericht sehr wohl nach den Folgen seiner Entscheidungen gefragt – meist ohne dies ausdrücklich in den Gründen seiner Entscheidungen zu erwähnen (zur Folgenorientierung durch Gerichte im Arbeitsrecht vgl. Däubler in: ZAAR Schriftenreihe, Band 8, herausgegeben von Rieble und Junker, 2007, S. 38 ff. und Rieble, ebenda, S. 54 ff.). Nun können praktische Umsetzungsprobleme keine rechtliche Begründung ersetzen. In den meisten Fällen geht es um eine gleichheitswidrige Benachteiligung bestimmter Gruppen. Dass sie jedenfalls für die Vergangenheit beseitigt wird, indem eine Anpassung an die besser gestellte Gruppe erfolgt, ist ein Vorgang, mit dem ein Arbeitgeber rechnen muss. Wer differenziert – beispielsweise eine betriebliche Altersversorgung nur für „Führungskräfte“ einführt – geht automatisch das Risiko ein, den Kreis der Begünstigten falsch abgegrenzt zu haben und so nachträglich ggf. mehr bezahlen zu müssen. Ob er dies durch einheitsvertragliche Regelung, durch Betriebsvereinbarung oder durch Tarifvertrag bewerkstelligt, sollte im Ergebnis keinen Unterschied machen. Jedenfalls hier ist die Anpassung nach oben die Korrektur, die die wenigsten Einwände provoziert (so generell – ein wenig resignierend – Spelge, NZA 2025, 288, 294).
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