I. Regelungs- und Rechtslage in Nordrhein-Westfalen
Der Landesentwicklungsplan Nordrhein-Westfalen (LEP) ist ein landesweiter Raumordnungsplan i.S.v. § 13 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ROG und somit das wichtigste Instrument für die Landesplanung in Nordrhein-Westfalen. Er enthält die wesentlichen Ziele der Raumordnung in Form von verbindlichen Vorgaben in Form von räumlich und sachlich bestimmten oder bestimmbaren, vom Träger der Raumordnung abschließend abgewogenen textlichen oder zeichnerischen Festlegungen in Raumordnungsplänen zur Entwicklung, Ordnung und Sicherung des Raums i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 2 ROG auf Landesebene und wird in den Regierungsbezirken auf Ebene der Regionalpläne konkretisiert.
Der aktuell gültige LEP wurde von der Landesregierung als Verordnung über den Landesentwicklungsplan Nordrhein-Westfalen vom 15.12.2016 (GV NRW 2017, S. 122) beschlossen und zuletzt durch Verordnung vom 09.04.2024 (GV NRW 2024, S. 209) als „sog. 2. Änderung des LEP“ beschlossen. Verschiedene Festlegungen in der 1. Änderung des LEP vom 05.08.2019 (GV NRW 2019, S. 441, 341) sind vom OVG Münster (Urt. v. 03.05.2022 - 11 D 135/20.NE u.a.; Urt. v. 21.03.2024 - 11 D 133/20.NE) für unwirksam erklärt worden. Insbesondere die Regelungen, die eine erleichterte Inanspruchnahme des Freiraums für Siedlungstätigkeit vorsahen, hat das OVG Münster als rechtswidrig und unwirksam angesehen, weil sie gegen das nach § 7 Abs. 7 ROG auch für Änderungen von Raumordnungsplänen geltende, in § 7 Abs. 2 Satz 1 ROG normierte Abwägungsgebot verstießen. Den für unwirksam erklärten Zielfestlegungen liege nach Auffassung des OVG Münster keine hinreichende Abwägung zugrunde. Soweit der Plangeber der Flexibilität der Träger der Bauleitplanung, Siedlungsentwicklung auch im regionalplanerisch festgelegten Freiraum zu betreiben, den Vorrang gegenüber anderen Belangen – insbesondere dem Freiraumschutz – gebe, fehle es an einer hinreichenden Ermittlung und Bewertung der durch das Regel-Ausnahme-System eröffneten Gestaltungsmöglichkeiten berührten Belange als wesentliche Grundlage der Abwägung. Vielmehr ließen die Unterlagen aus dem Planänderungsverfahren darauf schließen, dass das Verfahren nicht ergebnisoffen geführt worden sei, sondern der Plangeber aufgrund politischer Festlegungen im Koalitionsvertrag von vornherein zu den Änderungen entschlossen gewesen sei und die betroffenen Belange schon deshalb nicht näher ermittelt und bewertet habe. Mit dieser Entscheidung hat das OVG Münster einen nicht unerheblichen Teil der von der Landesregierung beabsichtigten Flexibilisierungsmöglichkeiten wieder einkassiert. Mit der 3. Änderung des Landesentwicklungsplans NRW, die sich bis zum 30.06.2025 in der Öffentlichkeitsbeteiligung befindet, sollten diese und weitere in der Rechtsprechung festgestellte Bedenken an einzelnen Zielvorgaben im Interesse des Leitbilds eines klimaneutralen Industrielandes mit einer nachhaltigen Landesentwicklung verfolgt werden (so die Begründung in Ziff. 2 zum Entwurf).
II. Wesentliche Eckpunkte der 3. Änderung des LEP
Zu den wesentlichen Eckpunkten der 3. Änderung des LEP gehört die Erleichterung der Inanspruchnahme des landesplanerischen Freiraums für die Siedlungsentwicklung. Diese hat sich entsprechend des Ziels 2-3 LEP grundsätzlich innerhalb des regionalplanerisch festgelegten Siedlungsraums zu vollziehen, der in Abgrenzung zu dem Freiraum als Summe von in den Regionalplänen dargestellten Allgemeinen Siedlungsbereichen und Bereichen für gewerbliche und industrielle Nutzungen zu verstehen ist. Die Ausnahmen von diesem Ziel beschränken sich in der bisherigen Fassung des LEP auf Bauflächen und -gebiete, die besonderen öffentlichen Zweckbestimmungen für bauliche Anlagen des Bundes oder des Landes dienten oder wenn die jeweilige bauliche Nutzung einer zugehörigen Freiraumnutzung deutlich untergeordnet war. Mit der nunmehr geplanten Änderung werden die Ausnahmemöglichkeiten erweitert und damit u.a. auch Entwicklungen im Freiraum ermöglicht, wenn sie sich unmittelbar an den Siedlungsraum anschließen oder wenn sie einer angemessenen Erweiterung vorhandener oder angemessener Nachfolgenutzung aufgegebener Betriebsstandorte dient. Mit dieser Erweiterung der ausnahmsweisen zulassungsfähigen Bauflächen soll zum einen solchen Nutzungen ein größerer Spielraum eingeräumt werden, die wie Erholungs-, Sport-, Freizeit- und Tourismuseinrichtungen ihren Standort ohnehin eher im Freiraum haben, und zum anderen solchen, bei denen es sich um angemessene Erweiterungen vorhandener und für Nachfolgenutzungen aufgegebener Betriebsstandorte handelt, um somit einem besseren Flächenrecycling Rechnung tragen zu können. Unterstützt wird das Ziel des Flächenrecyclings auch durch die Aufgabe der Forderung, brachgefallene Flächen als Reserveflächen zu reservieren und neu entstehende Brachflächen durch Rücknahme von Siedlungsflächen an anderer Stelle auszugleichen (Ziel 6.1-1 und Grundsatz 6.1-8 LEP).
Weiterhin möglich bleibt in Ziel 2-4 LEP die Entwicklung von Ortsteilen im regionalplanerisch festgelegten Freiraum, die grundsätzlich eine bedarfsgerechte Eigenentwicklung betreiben können. Hierunter fallen besiedelte Baugebiete, die aufgrund Ihrer Größe (unter 2.000 Einwohnern) nicht als Allgemeine Siedlungsbereiche dargestellt werden (vgl. Begründung zu Ziel 2-3 LEP).
Die Landesregierung verfolgt weiterhin das Ziel der flächensparenden und bedarfsgerechten Siedlungsentwicklung (Ziel 6.1-1 LEP) und hält grundsätzlich auch an den 5 ha/Tag-Ziel und der perspektivischen Reduzierung auf „Netto-Null“ fest. Allerdings werden keine Zeitvorgaben mehr gegeben, sondern das Ziel soll „zeitnah“ erreicht werden und perspektivisch die Zielsetzung einer vollständigen Flächenkreislaufwirtschaft verfolgt werden (Grundsatz 6.1-2 LEP).
Der Problematik der mangelnden Flexibilität der Regionalplanung soll durch Grundsatz 6.1-10 LEP mit „Spielräumen für die Bauleitplanung“ Rechnung getragen werden. Die Regionalplanung soll bei Aufstellung oder Fortschreibung von Regionalplänen Spielräume für eine flexiblere Flächeninanspruchnahme durch die kommunale Bauleitplanung prüfen. Damit soll einer Schwäche der derzeitigen Landes- und Regionalplanung, die die Bauleitplanung gemäß § 1 Abs. 4 BauGB zwingend zu beachten hat, begegnet werden, wenn sich für eine Kommune kurzfristig eine interessante Ansiedlungsoption ergibt, die aber in einem bisher nicht ausgewiesenen Siedlungsraum erfolgen soll. Eine dieser Möglichkeiten besteht darin, den im Regionalplan zeichnerisch darzustellenden Siedlungsraum umfangreicher darzustellen, als er sich aus einem nach Ziel 6.1-1 LEP zu ermittelnden Flächenbedarf ergibt. Mit diesem Ziel, auf der kommunalen Bauleitplanungsebene schneller auf Herausforderungen zur Umstrukturierung oder Neuansiedlung von Vorhaben zu reagieren, sondern sog. „Flex-Modelle“ zu entwickeln und z.B. zu aktivieren, wenn entsprechende Flächenbedarfe konkret bestehen.
III. Gewährleistung der Nahversorgung
Ebenfalls als Reaktion auf die Rechtsprechung des OVG Münster (Urt. v. 26.02.2020 - 7 D 49/16.NE und Urt. v. 21.04.2024 - 7 D 291/21.NE) ist Ziel der 3. Änderung des LEP, die Ansiedlung von großflächigen Einzelhandelsbetrieben, die der Nahversorgung dienen, zu erleichtern. Nach den Zielvorgaben des Ziels 6.5-2 LEP sind großflächige Einzelhandelsbetriebe gemäß § 11 Abs. 3 BauNVO nur innerhalb der zentralen Versorgungsbereiche von Gemeinden zulässig, die in aller Regel in kommunalen Einzelhandelskonzepten ausgewiesen werden oder sich als sog. „faktische“ zentrale Versorgungsbereiche aus der Struktur eines Siedlungsbereichs ergeben. Für Einzelhandelsgroßbetriebe mit nahversorgungsrelevanten Kernsortimenten dürfen Sonder- oder Kerngebiete nur unten engen, drei enumerativ aufgeführten Ausnahmevoraussetzungen ausgewiesen werden. Als problematischste erwies sich insbesondere die erste Voraussetzung im bisherigen LEP, dass die Ansiedlung eines großflächigen Nahversorgers nur außerhalb eines zentralen Versorgungsbereichs in Betracht kommt, wenn dessen Ansiedlung in den zentralen Versorgungsbereichen aus städtebaulichen oder siedlungsstrukturellen Gründen nicht möglich war. Dies hat die vorgenannte Rechtsprechung dahin gehend interpretiert, dass – will eine Gemeinde von dieser Ausnahmeregelung Gebrauch machen – zunächst nachgewiesen werden muss, dass unter keinem denkbaren Gesichtspunkt Ansiedlungsmöglichkeiten für derartige Einzelhandelsbetriebe im zentralen Versorgungsbereich vorhanden sind. Dabei fordert die Rechtsprechung auch die Prüfung, ob bebaute und grundsätzlich nicht zur Verfügung stehende Grundstücke perspektivisch als solche zur Verfügung stehen könnten. Faktisch führte diese Interpretation des OVG Münster zu einem Leerlauf der Ausnahmeregelung und insbesondere dazu, dass die kommunalen Interessen, wohnortnahe Nahversorgung mit großflächigen Einzelhandelsbetrieben zu betreiben, faktisch nicht möglich war. Der Verordnungsgeber begegnet dieser Interpretation mit einer Änderung der ersten Voraussetzung für die Ausnahmeregelung insoweit, dass eine Lage in den zentralen Versorgungsbereichen aus städtebaulichen Gründen nicht möglich oder aus siedlungsstrukturellen Gründen nicht zweckmäßig zur wohnortnahen Versorgung mit nahversorgungsrelevanten Sortimenten ist. Die bisherige zweite Voraussetzung, dass die Bauleitplanung der Gewährleistung einer wohnortnahen Versorgung mit nahversorgungsrelevanten Sortimenten dient, geht in der neu formulierten ersten Voraussetzung auf. So wünschenswert diese Klarstellung der Unterscheidung zwischen städtebaulichen Gründen und siedlungsstrukturellen Gründen und der Zweckmäßigkeit der Inanspruchnahme der Ausnahme zur Gewährleistung der wohnortnahen Versorgung ist, so sehr schränkt sich diese Ausnahmemöglichkeit wieder dadurch ein, dass als wohnortnah ein üblicher fußläufiger Radius von 700 bis 1.000 m um den Vorhabenstandort gewählt wird, der Maßstab der wohnortnahen Versorgung ist. Dies wird de facto wiederum zu einer erheblichen Beschränkung der Verkaufsflächengrößen führen, da sich die üblichen Methoden zur Ermittlung einer zweckmäßigen wohnortnahen Versorgung und der hierfür notwendigen und zulässigen Verkaufsflächengrößen an der Kaufkraft der in diesem Radius lebenden Bevölkerung orientiert ist. Das wird großflächigen Einzelhandelsbetrieben, insbesondere Vollsortimentern eine nachhaltige wohnortnahe Ansiedlungspolitik jedenfalls nicht erleichtern.
IV. Freiraumschutz, Energietransformation und Infrastruktur
Neben dieser Änderung, auf die die Handelslandschaft lange gewartet hat, enthält die 3. Änderung des LEP Anpassungen von Zielen, die sich auf Gebiete und Bereiche zum Schutz der Natur sowie zum Waldschutz beziehen sowie Konkretisierungen in Hinblick auf die Festlegungen im Bundesraumordnungsplan Hochwasser in Grundsatz 7.4-8 LEP „Berücksichtigung potenzieller Überflutungsgefahren“. Die Aufnahme eines Grundsatzes zur Wasserstoffinfrastruktur in Ziff. 8.2-8 LEP, mit dem Regional- und Bauleitplanung verpflichtet werden soll, freie bzw. freiwerdende Kraftwerkstandorte vorrangig für die Nachnutzung durch systemrelevante Elektrolyseure, Konverter und wasserstofffähige Gaskraftwerke zu reservieren, soll der Transformation des Energiesystems dienen. Außerdem soll dem Anliegen der chemischen Industrie Rechnung getragen werden, im LEP oder über den LEP die Planung von Korridoren für überregional bedeutsame Chemie-Standorte zu unterstützen. Ebenso gehört die Gewährleistung einer nachhaltigen Mobilitätsentwicklung und die Aufnahme des Grundsatzes zum überregional bedeutsamen Radverkehr zu weiteren Regelungspunkten dieses Verfahrens zur 3. Änderung des LEP NRW.
V. Bewertung
Alles in allem steht diese Änderung in einer Reihe zahlreicher auch von der neuen Bundesregierung auf den Weg gebrachter „Beschleunigungs-Vorhaben“, die dazu führen wird, zu flexibleren Flächeninanspruchnahmen zu führen, wie etwa der in der neusten 100-Tage-BauGB-Novelle vorgesehene sog. „Wohnungsbauturbo“ in § 246e BauGB-E. Hier wird die spannende Frage sein, wie die Rechtsprechung mit derartigen weitreichenden Öffnungen umgeht und insbesondere, ob diese Öffnungen den europarechtlichen Standards, insbesondere der SUP- bzw. UVP-Richtlinie, standhalten. Insofern wird an dieser Stelle sicherlich in Zukunft zu den angesprochenen Komplexen noch die ein oder andere Besprechung folgen.