Reduzierung des KH-Innenregresses „auf null“ bei grob verkehrswidrigem Verhalten eines der Gesamtschuldner trotz eigenen Verkehrsverstoßes des anderen FahrzeugführersOrientierungssatz Fahren zwei Motorradfahrer hintereinander, so muss der nachfolgende Motorradfahrer auch dann einen Abstand zum vorausfahrenden Motorrad einhalten, welcher bei einer plötzlichen Bremsung einen Anhaltevorgang hinter dem Vorausfahrenden zulässt, wenn die Motorradfahrer zugleich seitlich versetzt zueinander fahren und der Fahrstreifen beiden Motorradfahrern nebeneinander Platz bietet. - A.
Problemstellung In dieser Entscheidung hatte das LG Stuttgart einen Gesamtschuldner-Innenregress des klagenden Kraftfahrt-Haftpflichtversicherers nach einem dem Haftungsgrunde nach streitigen berührungslosen Verkehrsunfall im Begegnungsverkehr zu entscheiden.
- B.
Inhalt und Gegenstand der Entscheidung Die Parteien des Rechtsstreits streiten um den Umfang des Gesamtschuldner-Innenausgleichs nach einem dem Haftungsgrunde nach streitigen Verkehrsunfall. Unmittelbar unfallbeteiligt waren insgesamt sieben Fahrzeuge. Der bei der Klägerin kraftfahrt-haftpflichtversicherte Pkw fuhr als drittes Fahrzeug in einer aus insgesamt vier Fahrzeugen bestehenden Kolonne. Diese wurde von einem Lkw angeführt, gefolgt von einem weiteren Pkw eines Zeugen. Dahinter fuhr der bei der Klägerin kraftfahrt-haftpflichtversicherte Pkw, gefolgt wiederum von einem weiteren Lkw, welcher zugleich auch eine für die Beweisaufnahme maßgebliche Dashcam-Aufzeichnung anfertigte. Dieser Kolonne entgegen kamen insgesamt drei Fahrzeuge, ein führender Pkw und mit einigem Abstand dahinter zwei Motorräder. Das vordere dieser Motorräder wurde von dem Geschädigten gesteuert, das dahinter befindliche und leicht rechts versetzt fahrende Motorrad von dem Beklagten zu 1). Die am Verfahren beteiligte Beklagte zu 2) ist dessen Haftpflichtversicherung. Nachdem der im Gegenverkehr herannahende Pkw die aus vier Fahrzeugen bestehende Kolonne passiert hatte, prüfte der vor dem bei der Klägerin versicherten Fahrzeug fahrende Fahrzeugführer, inwieweit ein Überholmanöver möglich ist. Dazu scherte er leicht zur Mittellinie hin aus und erkannte hierbei die im Gegenverkehr heranfahrenden Motorräder. Aus diesem Grund stellte er den Überholvorgang zurück. Der Fahrer des bei der Klägerin kraftfahrt-haftpflichtversicherten Pkws scherte sodann zum Überholen nach links aus und passierte während des Überholvorgangs sowohl den Pkw des vorausfahrenden Zeugen als auch den davor befindlichen Lkw. In Reaktion auf das ausscherende und bei der Klägerin versicherte Fahrzeug leiteten die im Gegenverkehr befindlichen Motorradfahrer eine starke Bremsung ein. Das Motorrad des Geschädigten beugte sich hierbei über das Hinterrad auf. Der leicht versetzt und mit zu geringem Abstand dahinterfahrende Beklagte zu 1) kollidierte bei einer Geschwindigkeit von etwa 100 km/h mit dem vorausfahrenden Motorrad, wodurch beide Motorradfahrer zu Fall kamen. Zu einer Kollision der Motorräder mit einem der entgegenkommenden Fahrzeuge, insbesondere dem bei der Klägerin versicherten Pkw, kam es dabei nicht. Die Klägerin regulierte außergerichtlich den Sach- und Personenschaden des vorausfahrenden Motorradfahrers mit einer Haftungsquote von 100%. Im hiesigen Verfahren nimmt sie unter Berufung auf einen gegen den Beklagten zu 1) nach ihrer Auffassung streitenden Anscheinsbeweis die Beklagten gesamtschuldnerisch zu einem Mithaftungsanteil von 25% an der Gesamtquote in Anspruch. Das LG Stuttgart hat die Klage abgewiesen. Es führt aus, die Parteien des hiesigen Rechtsstreits seien gegenüber dem geschädigten Motorradfahrer zunächst Gesamtschuldner, da sich dessen Schaden zumindest beim Betrieb sowohl des Motorrads des Beklagten zu 1) als auch des bei der Klägerin kraftfahrt-haftpflichtversicherten Pkws ereignet habe. Auch sei der Unfall für keinen der Beteiligten ein unabwendbares Ereignis. Nach der vorzunehmenden Haftungsabwägung sei allerdings von einer vollständigen Haftung der Klägerin auszugehen. Zulasten der Klägerin gehe das Landgericht von einem grob fahrlässigen Verkehrsverstoß des Führers des bei ihr versicherten Kraftfahrzeugs gegen die Vorschrift des § 5 Abs. 2 Satz 1 StVO aus. Der Führer des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs hätte bereits nicht zum Überholvorgang ansetzen dürfen, diesen aber jedenfalls abbrechen müssen, da die Motorradfahrer für ihn erkennbar gewesen seien. Aus dem Ergebnis der Beweisaufnahme gewinnt das Landgericht die Erkenntnis, dass für den Fahrer des bei der Klägerin kraftfahrt-haftpflichtversicherten Pkws bereits zu Beginn des Überholmanövers klar gewesen sein muss, dass dieses nicht ohne erhebliche Behinderung oder gar Gefährdung der entgegenkommenden Motorradfahrer zu einem Abschluss gebracht werden könne. Insbesondere mit Blick auf den Umstand, dass der vorausfahrende Fahrzeugführer, welcher vor dem versicherten Fahrzeug der Klägerin fuhr, von einem Überholmanöver mit Blick auf den Gegenverkehr bereits abgesehen hatte und auch die im Rahmen der Beweisaufnahme weiter angehörten Zeugen (die beiden Lkw-Fahrer) diesen zeitlichen und räumlichen Ablauf bestätigten, geht das Gericht von einer vorsätzlichen Verkehrsgefährdung des Fahrers des bei der Klägerin versicherten Kraftfahrzeugs aus. In die Haftungsabwägung einzustellen sei nach der Feststellung des Landgerichts darüber hinaus auch ein Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1). Er hätte mit seinem Motorrad nicht nur in Querrichtung, sondern auch in Längsrichtung den nach § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO erforderlichen Sicherheitsabstand einhalten müssen. Auch wenn die Breite eines Fahrstreifens zwei Motorrädern grundsätzlich nebeneinander Platz bietet, so könne sich ein Motorradfahrer nicht darauf verlassen, dass ihm ein „Nebeneinanderfahren“ stets ermöglicht werde. Wie der Streitfall zeige, könne es zu Verkehrssituation kommen, die einen Teil der Fahrbahnbreite plötzlich streitig machten. Nach Auffassung des Landgerichts müssten Motorräder in Längsrichtung unabhängig von der Frage, ob sie mit einem seitlichen Versatz zueinander fahren oder nicht, einen für eine plötzliche Vollbremsung des vorausfahrenden Verkehrsteilnehmers ausreichenden Sicherheitsabstand einhalten. Das Landgericht gelangt im Ergebnis gleichwohl zu einer ausschließlichen Haftung aufseiten der Klägerin. Der in die Haftungsabwägung einzustellende Verkehrsverstoß des Fahrers des bei der Klägerin versicherten Fahrzeugs sei derart gravierend, dass die vom Landgericht als einfache Fahrlässigkeit des Beklagten zu 1) bezeichnete Handlungsweise in der Haftungsabwägung gänzlich zurücktrete. Es verbleibe insoweit allein bei einem Haftungsanteil der Klägerin.
- C.
Kontext der Entscheidung Die Entscheidung des Landgerichts erweist sich als richtig. Das Landgericht ist zunächst zutreffend von einer gesamtschuldnerischen Haftung ausgegangen. Der Verkehrsunfall mit der damit einhergehenden Schädigung des vorausfahrenden Motorradfahrers hat sich bei dem Betrieb beider Kraftfahrzeuge, also sowohl des klägerischen Pkws als auch des Motorrads des Beklagten zu 1) ereignet. Gegenüber dem klägerischen Pkw sind die Grundsätze des berührungslosen Unfalls anzuwenden (BGH, Urt. v. 03.12.2024 - VI ZR 18/24; OLG Hamm, Urt. v. 09.05.2023 - I-7 U 17/23; OLG Celle, Urt. v. 13.12.2023 - 14 U 32/23). Nach den Feststellungen des Landgerichts hätten der der Kolonne vorausfahrende Lkw, der klägerische Pkw und das führende Motorrad des Geschädigten auf der Fahrbahn (so gerade) aneinander vorbei gepasst, ohne dass es zur Kollision gekommen wäre. Die Grundsätze des berührungslosen Unfalls setzen einen Verkehrsvorgang voraus, der über die eigentliche Anwesenheit am Unfallort hinausgeht und kausal zur Entstehung des Schadens beigetragen hat. Das dürfte für das grob verkehrswidrige Überholmanöver des Fahrers des klägerischen Pkw unzweifelhaft der Fall sein. Erst durch sein Ausscheren in den Gegenverkehr hat er die entgegenkommenden Motorradfahrer zu einer Reaktion gezwungen, die dann (durch ein noch darzustellendes Verkehrsversagen des Beklagten zu 1)) in die Kollision mündete. Würde das Fahrverhalten des Fahrers des klägerischen Pkws hinweggedacht werden, so wäre es zu dem hier in Rede stehenden Unfall nicht gekommen. Andere Ursachen, die ein Auffahren des Beklagten zu 1) auf das ihm vorausfahrende Motorrad zur Folge gehabt hätten, sind nach den Feststellungen des Landgerichts nicht ersichtlich. Mit Blick auf den Umstand der unmittelbaren Fahrzeugberührung zwischen dem Motorrad des Beklagten zu 1) und dem Motorrad des Geschädigten ist auch hier eine Zuordnung des Schadens des Geschädigten zum Betrieb des Motorrads des Beklagten zu 1) möglich, so dass eine gesamtschuldnerische Haftung beider Prozessparteien gegeben ist. Der Gesamtschuldner-Innenregress unter den Beteiligten ist damit grundsätzlich eröffnet. Insoweit hatte das Landgericht eine Haftungsabwägung der Verursachungsanteile der beteiligten Fahrzeugführer vorzunehmen, die im Ergebnis mit guter Argumentation gelingt. Zunächst ist das Landgericht zutreffend davon ausgegangen, dass dem Beklagten zu 1) ein Verkehrsverstoß gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO zur Last fällt. Nach dieser Vorschrift hat jeder Verkehrsteilnehmer zu dem ihm vorausfahrenden Verkehr einen derart großen Abstand einzuhalten, dass auch dann, wenn „plötzlich gebremst wird“, ein sicheres Anhalten möglich ist. Hier liegt die Sonderkonstellation vor, dass die beiden Motorradfahrer in ihrer Fahrspur sowohl horizontal als auch vertikal versetzt gefahren sind. Das Landgericht hat sich in diesem Kontext mit der Frage auseinandergesetzt, welche Anforderungen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO an den Verkehrsteilnehmer stellt und gelangt durch Auslegung der Norm zu dem zutreffenden Ergebnis, dass das horizontal zueinander versetzte Fahren von den Sorgfaltspflichten des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO nicht entbindet. Insoweit hat das Landgericht festgestellt, dass der nachfolgende Motorradfahrer sich grundsätzlich nicht auf eine Nutzbarkeit der Spur für eine durchgängige Fahrt nebeneinander verlassen kann. Das Landgericht hat Verkehrssituationen wie die hiesige aufgezeigt, in denen die vollständige Breite der Fahrspur plötzlich und unvorhersehbar nicht mehr zur Verfügung steht. Da über die Argumentation des Landgerichts hinaus die Fahrspur durch den Verkehrsteilnehmer im Rahmen der geltenden Verkehrsregeln (exemplarisch § 2 Abs. 2 StVO, sogenanntes Rechtsfahrgebot) in voller Breite genutzt werden darf, ist ein vertikal nebeneinander versetztes Fahren grundsätzlich nicht geeignet, die Sorgfaltsanforderungen des § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO zu erfüllen. Insoweit hat das Landgericht zutreffend festgestellt, dass es keine gegen die aus § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO folgende Anscheinsbeweiskonstellation sprechende Atypik darstellt zu behaupten, zwei Motorräder seien innerhalb der gleichen Fahrspur vertikal versetzt zueinander gefahren. Vielmehr ist richtigerweise trotz der Möglichkeit des versetzten Fahrens innerhalb einer Fahrspur das Einhalten des durch das Gesetz vorgeschriebenen Mindestabstand zu fordern. Insoweit hat das Landgericht zutreffend einen Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1) gegen § 4 Abs. 1 Satz 1 StVO in die Haftungsabwägung nach § 17 Abs. 2 StVG eingestellt. Demgegenüber steht der vom Landgericht ebenfalls zutreffend festgestellte und gravierende Verkehrsverstoß des Fahrers des klägerischen Pkw gegen § 5 Abs. 2 StVO. Die Feststellungen des Landgerichts tragen die Annahme einer vorsätzlichen Verkehrsgefährdung durch den Fahrer des klägerischen Fahrzeugs (vgl. hierzu OLG Hamm, Urt. v. 20.08.2024 - III-4 ORs 57/24). Dabei wiegt der Verstoß des Fahrers des Fahrzeugs der Klägerin besonders schwer, da nach den Feststellungen des Landgerichts bereits der vor dem versicherten Fahrzeugführer fahrende Fahrer seinen ursprünglich geplanten Überholvorgang abbrach, weil er erkannte, dass er diesen nicht gefahrlos würde beenden können. Erst danach entschied sich der hinter diesem Fahrzeug fahrende Versicherte der Klägerin zum Ausscheren – zeitlich nach seinem Vordermann und „weiter hinten“. Dass dieses Manöver hoch gefährlich war, liegt auf der Hand, zumal auch die beiden weiteren Zeugen die räumlichen und zeitlichen Zusammenhänge bestätigten. Ebenfalls zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass im Falle eines grob verkehrswidrigen Verhaltens eines der Verkehrsteilnehmer der Innenregress „auf null“ reduziert sein kann (BGH, Urt. v. 23.01.1996 - VI ZR 291/94). Selbst im Falle eines eigenen Verkehrsverstoßes des Regressgegners kann die Haftungsquote vollständig zulasten eines der Gesamtschuldner ausfallen, erweist sich der zugrunde liegende und nach § 17 Abs. 2 StVG in die Haftungsabwägung einzustellende Verkehrsverstoß als derart gravierend, dass ein festzustellender Verschuldensanteil des Regressgegners unberücksichtigt bleiben kann.
- D.
Auswirkungen für die Praxis Die hier besprochene Entscheidung kann als Muster dienen für die Bewertung von Verkehrsverstößen im Bereich sog. „Motorradkolonnen“. Sie stellt insbesondere anschaulich heraus, welche Anforderungen an in einer Motorradkolonne fahrende Verkehrsteilnehmer zu stellen sind. In der Praxis ist es durchaus häufig zu beobachten, dass in Überholkonstellationen gleich mehrere Teilnehmer einer Motorradkolonne aufgrund untereinander nicht eingehaltener Sicherheitsabstände zu Fall kommen. Für die Praxis stellt sich damit ein recht großer Kreis potenzieller Regressschuldner ein, da jeder Teilnehmer der Motorradkolonne, der für sich genommen den Sicherheitsabstand zum jeweils vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer nicht eingehalten hat, als Mitverursacher eines Verkehrsunfalls in Betracht kommt. Liegt – anders als im hier besprochenen Fall – kein gravierender, möglicherweise sogar vorsätzlich begangener Verkehrsverstoß eines der beteiligten Gesamtschuldner vor, so ist mitunter nach den von Lemke (Lemke, Haftung aus Verkehrsunfall mit mehreren Beteiligten, RuS 2009, 45) anschaulich aufgezeigten Grundsätzen eine umfangreiche Gesamthaftungsquote zu bilden.
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